Lebensgeschichte von Cherry-Lee

Vielleicht gibt es sie wirklich - die Menschen, die von Anfang an unter ihrem Alkoholkonsum gelitten haben, dennoch fast 30 Jahre weiter getrunken haben und dann, nachdem sie endlich allen Mut zusammengenommen und sich vom Alkohol verabschiedet hatten, ihren langen Begleiter nicht eine Sekunde vermisst haben. Ich gehöre nicht dazu. Ich habe gern getrunken. Jahrelang, immer wieder. Ich habe mich auf die Flasche Wein, das Glas Gin mit Orangensaft am Abend gefreut - während eines hektischen Nachmittags konnte ich mich fest darauf verlassen, dass abends Entspannung einkehren würde.

 

Die feucht-fröhlichen Jahre haben mir viel gegeben: Rauschende Feste, wunderbare Abende mit Freunden, ein Selbstbewusstsein, wie ich es vorher nicht gekannt hatte. Meine Freunde tranken auch alle - natürlich, denn das war eines der Hauptkriterien für die Zusammenstellung meines Freundeskreises. Menschen, die ganz ohne Alkohol oder andere Drogen durchs Leben gingen, waren mir seit jeher suspekt.

 

Ich trank nie schon am Tag, auf diese Idee wäre ich gar nicht gekommen.... Ich achtete jahrelang penibel darauf, den Empfehlungen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung folgend ein bis zwei Tage in der Woche ganz auf Alkohol zu verzichten. So konnte ich auch sicher sein, nicht abhängig zu werden - denn das war der schrecklichste Gedanke, der sich überhaupt in die Nähe meines Gehirns wagen konnte: Sollte ich jemals aufhören müssen zu trinken, womöglich, weil ich einfach die Kontrolle verloren hätte, könnte ich mich auch gleich umbringen! Der Gedanke, auf all das zu verzichten, was mein Leben so überaus angenehm machte, war mir unerträglich....

 

Aber ich war ja nicht abhängig..... Während meiner beiden Schwangerschaften und der darauf folgenden Stillzeiten fiel es mir noch nicht einmal schwer, eine so lange Zeit dem Alkohol zu entsagen. Für mein erstes Baby schaffte ich es sogar, mir das Rauchen abzugewöhnen, was ich bis zu dem Zeitpunkt nie für möglich gehalten hätte.

 

Bis heute (seit über 20 Jahren) habe ich nie wieder eine Zigarette angefasst. Doch das Abstillen habe ich noch am selben Tag mit einer Flasche Baileys gefeiert. Schon am nächsten Nachmittag konnte ich nicht anders, als mir für den Abend zwei Flaschen Weißwein in den Einkaufswagen zu legen. In dem Moment war mir durchaus klar, dass da gerade etwas mit mir passierte, was ganz und gar nicht in Ordnung war, aber ich konnte nichts dagegen tun. Wenn ich weiter glücklich und zufrieden sein wollte, musste ich dem Drang nachgeben. Das tat ich dann auch - fast jeden Abend - und diesen kurz aufflackernden Gedanken, dass da etwas nicht so war, wie es sein sollte, schob ich in eine mir weitgehend unbekannte kleine Ecke meines Gehirns, in die ich auch für eine lange Zeit nicht wieder vordringen sollte....

 

Mein Leben verlief weiter glücklich und zufrieden, tagsüber kümmerte ich mich um meine Familie, nahm gegen Ende meiner Erziehungszeit eine neue Stelle in Teilzeit an, lernte durch Spielplatz und Kindergarten viele neue Freunde kennen, mit denen man herrliche Grillabende zelebrieren konnte und wenn die Kinder ihre Gutenachtgeschichte vorgelesen bekommen hatten und in den Schlaf gesunken waren, ließen mein Mann und ich den Tag mit einer (oder mehr) Flaschen Wein ausklingen. Eigentlich immer waren es mehr.

 

Ich habe nicht getrunken, um zu vergessen - oder um mein Leben erträglicher zu machen. Mein Leben war eigentlich perfekt. Als Jugendliche hatte ich Amphetamine missbraucht - das hatte nichts mit dem Vergessen von negativen Gefühlen oder Leistungssteigerung bei mir zu tun - ich hatte einfach Spaß daran, dem ohnehin schon schönen Leben noch eine glitzernde Krone aufzusetzen. Auch davon war ich schnell abhängig. Irgendwann machte mir der Gesetzgeber mit Einführung der Rezeptpflicht für meine favorisierten Substanzen einen Strich durch die Rechnung (zur illegalen Drogenszene hatte ich keine hilfreichen Kontakte) und ich musste mich auf die Suche nach einem Ersatz machen. Alkohol ist überall ohne Aufwand erreichbar.

 

Ich hatte fürsorgliche Eltern, denen ich nicht die Schuld an meiner Sucht geben kann. Niemand war daran Schuld. Es war einfach Pech - man gewöhnt sich dran, und irgendwann ist das Trinken normal und das Nichttrinken fühlt sich ungewohnt an. Und irgendwann kippt das System.

 

Zwei Jahre bevor "das System kippte" hatte ich einen schweren Schicksalsschlag wegzustecken, den man geneigt sein könnte, als Entschuldigung für meine Entgleisung anzusehen. Aber er war nicht der Grund. Als er mich ereilte, war ich schon lange nicht mehr in der Lage, über meinen Alkoholkonsum frei zu entscheiden. Körperliche Entzugserscheinungen hatte ich allerdings nie, insofern war ich nach meinem Empfinden ja auch nicht abhängig und es gab keinen Grund, an meinem Verhalten etwas zu ändern. Doch danach kamen auch Tabletten dazu. Es tat einfach gut, nach einer Flasche Wein und vielleicht einer halben Flasche Gin noch ein paar Schlaftabletten runterzuspülen und dann für ein paar Stunden vollkommen seine Ruhe zu haben. Ein Zustand, an den man sich ebenfalls gewöhnen kann.

 

In der Zeit drangen vereinzelt die ersten Gedanken an die Oberfläche, dass ich wirklich etwas ändern musste - dass ich tatsächlich mit meinem Leben spielte, was ich mir vorher nie wirklich bewusst gemacht hatte. Abwechselnd setze ich mal die Tabletten, mal den Alkohol ab, wich auf Cannabis aus, versuchte mich an abstinenten Phasen, die stets nur wenige Wochen anhielten, aber deren Ende immer von einem Wiedereinstieg gekrönt war, der jeweils in ein noch exzessiveres Trinkverhalten mündete. Als ich im Sommer einige Monate arbeitslos war, schaffte ich es jedoch immerhin, von den Schlaftabletten wieder vollständig runterzukommen.... es dauerte Wochen, bis ich wieder normal schlafen konnte, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, aber irgendwann funktionierte es wieder.

 

Meinen neuen Job begann ich in einer dieser abstinenten Phasen. Mein Plan war eigentlich, nach einigen Wochen wieder kontrolliert weiter zu trinken. Das Weitertrinken klappte dann auch wunderbar - nur das mit dem Kontrollieren nicht. Es dauerte dann noch einige Monate, bis mir definitiv klar war, dass ich aufhören musste, wenn ich nicht meinen Job und damit eine Chance auf ein weiterhin gutes Leben riskieren wollte. Ich zog die Konsequenzen.

 

Als ich am ersten Morgen meines "neuen" Lebens viel zu früh aufwachte (Schlafstörungen waren ein Entzugssymptom, das mich einige Wochen begleitete), setzte ich mich mit einem Becher starken Kaffees in die Küche und notierte alles, was ich in Bezug auf mein Trinkverhalten festgestellt hatte und nicht vergessen wollte. Ich schrieb auch auf, was ich für mich für die kommende Zeit für wichtig hielt, was ich tun und was ich ändern wollte. Jeden Abend Tagebuch zu schreiben half mir zum Beispiel, einen guten, ruhigen Abschluss zu finden für jeden "geschafften Tag ohne".

 

In den ersten beiden Wochen ohne Alkohol ging es mir eigentlich super. Die Anfangseuphorie wich jedoch einer tief empfundenen Freudlosigkeit. Dauerhafter Suchtdruck machte mir zu schaffen, ich konnte über Monate keinen klaren Gedanken fassen. Der Himmel schenkte mir auf der Arbeit eine zeitlich begrenzte, äußerst anspruchslose Sonderaufgabe - normalerweise hätte ich so etwas kaum ertragen, aber zu dem Zeitpunkt rettete mir das meinen Job, weil ich gar nicht in der Lage gewesen wäre, mich auf irgendwelche komplizierteren Aufgaben zu konzentrieren.

 

Reden konnte ich über das Problem eigentlich mit niemandem wirklich. Meiner besten Freundin hatte ich mich anvertraut - für den Notfall, falls ich doch irgendwie Hilfe bräuchte und auch, um ein Hintertürchen zu verschließen. Mir war klar, dass ich nicht so einfach wieder zurück könnte, wenn ich mich zu meinem Problem auch nur einer Person gegenüber bekannt hätte.

 

Nach ungefähr zwei abstinenten Monaten entdeckte ich einen Online Chat zum Thema Alkoholismus - eine Art Onlineselbsthilfegruppe, wo ich mich zum ersten Mal wirklich austauschen konnte. Mir hat das unglaublich geholfen, zu erfahren, wie andere mit dem Problem umgehen, mich nicht mehr so allein zu fühlen, und mich auch mal ausheulen zu können. Manchmal hat man mir dort auch etwas "Dampf unterm Hintern" gemacht, wenn ich zu negativ drauf kam, und viele gute Gedanken konnte ich für mich daraus mitnehmen.

 

Mittlerweile kenne ich mehrere solche Chats, und freue mich, wenn ich dort zur morgendlichen Tasse Kaffe oder am Abend etwas Zeit verbringen kann. Ich habe auch schon einige sehr nette Menschen dadurch kennen gelernt, und es sind Freundschaften daraus entstanden.

 

Seit einem Jahr etwa besuche ich jetzt auch eine reale Selbsthilfegruppe. Lange habe ich mich nicht getraut - es stand immer die Angst im Raum, dass ich dort vielleicht auf Kollegen oder andere Leute treffen könnte, die mich kennen und vor denen ich mich nicht gern geoutet hätte. Aber bisher habe ich diese Erfahrung nicht gemacht und wenn es denn doch mal so sein sollte, dann wäre der oder die andere ja auch nicht ohne Grund dort...

 

Einiges in meinem Leben hat sich in den letzten drei Jahren geändert, seit ich nicht mehr trinke. Ich treibe (möglichst regelmäßig) Sport, habe neue Hobbys und neue Freunde gefunden. Auch zu Freundinnen von ganz früher, vor meiner "wilden Zeit", habe ich wieder Kontakt und es ist immer sehr schön, wenn wir uns treffen. Es hat lange gedauert, aber ich fange an, mich wieder zufrieden und glücklich zu fühlen. Und ich hoffe, dass es noch lange so bleibt.

 

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich einerseits beim Weglassen des Alkohols kaum Entzugserscheinungen hatte, mir andererseits jedoch auch der enormen Gefahren eines kalten Entzuges nicht bewusst war. Mit meinem heutigen Wissen hätte ich die Suchtberatungsstelle und meine Hausärztin von Anfang an in meinen Plan eingebunden.

 

Ich wünsche jedem, der diesen Weg einschlägt, dass er strahlend daraus hervorgeht - auch, wenn es vielleicht ein Weilchen dauert und Geduld erfordert - es lohnt sich!

 

Alles Liebe,

 

Cherry-Lee